In Brüssel hängen Werbeplakate, die es anderswo gar nicht gibt. Beamte der Europäischen Kommission beispielsweise wurden im vergangenen Jahr wochenlang morgens beim Aussteigen am U-Bahnhof Schuman mit Werbung von Google begrüßt. Auf den Plakaten lobte der US-Internetkonzern sich etwa für die Kindersicherung in der Suchmaschine oder die Bedeutung seiner Angebote für kleine Unternehmen, wie die Welt berichtete. Die Plakat-Kampagne ist nur der offensichtlichste Teil der Bemühungen des Internetriesen, die Gesetzgeber in der EU-Hauptstadt in seinem Sinne zu beeinflussen. Rund 5,75 Millionen Euro gibt der Konzern dafür jedes Jahr aus. Das ist mehr Geld, als jedes andere Unternehmen in Brüssel in die Hand nimmt, um bei den Beamten der Kommission und den Abgeordneten des Europäischen Parlaments Gehör zu finden.
Google ist mit diesen Bemühungen aber nicht allein. Die als Big Tech umschriebenen amerikanischen Technologiekonzerne Google, Amazon, Apple und Facebook stecken gewaltige Summen in die Lobbyarbeit im Herzen Europas. Das illustriert eindrucksvoll eine neue Untersuchung der Organisationen LobbyControl und Corporate Europe Observatory.
Die Analyse „Die Lobbymacht von Big Tech: Wie Google & Co die EU beeinflussen“ zeigt auf, wie die Netzwirtschaft ihr politisches Netz in Europas Hauptstadt webt. Dazu gehört beispielsweise auch die finanzielle Unterstützung von – mehr oder weniger – einflussreichen Denkfabriken, auch wenn deren Veröffentlichungen nicht immer die Forderungen der Technologieriesen unterstützen. Vor allem aber dokumentieren die NGOs, welche Finanzkraft die großen Tech-Konzerne einsetzen, um Einfluss auf die europäische Politik zu nehmen.
In den vergangenen Jahren hat sich die Digitalwirtschaft zu der Branche entwickelt, die am meisten Geld nach Brüssel schickt – analog zum wachsenden Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft. Insgesamt geben Tech-Unternehmen und -verbände nach den Recherchen der beiden NGOs mehr als 97 Millionen Euro pro Jahr für Lobbyarbeit bei den europäischen Institutionen aus und beschäftigen dafür 1.452 Lobbyisten.
Die Digitalwirtschaft betreibt damit inzwischen weit größeren Aufwand als andere Branchen wie Pharma, Chemie, fossile Energien, Banken oder Tabakunternehmen, die traditionell sehr viel Geld ausgeben, um Regulierung abzuwehren.
US-amerikanische Unternehmen, beziehungsweise deren europäische Töchter dominieren die Rangliste der zehn Tech-Unternehmen, die in Brüssel am meisten Geld ausgeben. Auf Google folgen Facebook und Microsoft, die beide jeweils mehr als fünf Millionen Euro ausgeben. Apple steckt jedes Jahr 3,5 Millionen Euro ins europäische Lobbying, der international unter Druck geratene chinesische Technologiekonzern Huawei drei Millionen Euro und Amazon 2,75 Millionen Euro.
Eine Liga darunter spielen IBM, Intel, Qualcomm und Vodafone – Firmen die mit Handynetzen, Chips, Servern und Software das physische Gerüst des Internets liefern und in Brüssel jedes Jahr 1,75 Millionen Euro ausgeben. Insgesamt ein Drittel der gesamten Ausgaben für Tech-Lobbying in Brüssel entfällt allein auf diese zehn Unternehmen, die damit die Szene dominieren.
Das Geld fließt für die Gehälter von Mitarbeitern, für Büromieten, Workshops und Veranstaltungen auf denen die Unternehmen für ihre Positionen werben. Viel Geld fließt auch für die Dienstleistungen von Beratungsunternehmen, PR-Agenturen und großen Anwaltskanzleien oder für die Mitgliedsbeiträge von Verbänden und Interessengruppen, die ebenfalls im Auftrag der Tech-Firmen um die Aufmerksamkeit von Beamten und Abgeordneten werben. Parteispenden und Ausgaben auf nationaler Ebene tauchen in diesen Zahlen nicht auf.
Der große Aufwand illustriert, wie viel für die Branche aktuell auf dem Spiel steht. Big Tech ist in Europa so sehr unter Druck wie nie zuvor. Die Europäische Kommission will die dominanten Plattformen zähmen und hat dafür im Dezember entsprechende Gesetzesvorschläge vorgelegt: den Digital Services Act (DSA) und den Digital Markets Act (DMA). Aktuell verhandeln die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament darüber.
Neue Regeln sind dringend nötig: Aktuell regeln Gesetze, die kurz nach der Jahrtausendwende verabschiedet wurden, die Arbeit digitaler Unternehmen. Facebook, YouTube oder WhatsApp gab es damals noch nicht einmal. Die neuen Gesetze, die bereits im kommenden Jahr verabschiedet werden sollen, werden denn auch jahre-, wenn nicht gar jahrzehntelang Einfluss nehmen auf die Geschäfte der Internetgiganten.
Die neuen Regeln haben vor allem zwei Ziele: die Verbreitung von illegalen Inhalten, Falschnachrichten und Hassrede aufzuhalten und den Missbrauch von Monopolen zu verhindern, damit nicht kleinere Unternehmen aus dem Markt gedrängt werden.
Beispielsweise fordert die Kommission spezielle Regeln für mächtige Gatekeeper-Plattformen wie Google oder Facebook, die ihre Algorithmen offenlegen und ihre Datenschätze mit kleineren Unternehmen teilen sollen. Das Europäische Parlament hat zusätzliche eigene Vorstellungen und debattiert etwa das Ende personalisierter Werbung. All das gefährdet die Geschäftsmodelle und die äußerst lukrativen Geschäfte vieler Tech-Firmen.
Die Rangliste der ausgabefreudigen Konzerne zeigt allerdings nicht nur unter welchem Druck die Unternehmen stehen und wie viel Geld sie haben. Sie illustriert auch eindrucksvoll, dass Unternehmen, die ihren Hauptsitz nicht in der EU haben, nur wenige andere Einflussmöglichkeiten haben. In der Liste tauchen ausschließlich Töchter amerikanischer, chinesischer oder britischer Konzerne auf, aber kein einziges Unternehmen mit Wurzeln in der EU.
Während etwa die deutsche Automobilindustrie oder nationale Verbände über die Bundesregierung, Abgeordnete des Europäischen Parlaments oder deutsche Beamte in der Kommission Einfluss nehmen können, ist US-Unternehmen dieser Weg in der Regel verwehrt.
Obwohl Huawei in der Top 10 der ausgabefreudigen Unternehmen auftaucht, spielen chinesische Tech-Konzerne in Brüssel noch eine untergeordnete Rolle. Von allen Unternehmen, die versuchen, die EU-Politik im Bereich digitale Wirtschaft zu beeinflussen, haben weniger als ein Prozent ihren Sitz in China oder Hongkong. „Chinesische Unternehmen geben bislang offenbar noch nicht so viel Geld für EU-Lobbying aus wie ihre Konkurrenten aus den USA“, schreiben die Autoren, finden dafür aber auch keine Erklärung.
Abgesehen von den spendierfreudigen Riesen sind die Ausgaben der meisten anderen 612 Digital-Unternehmen und -verbände überschaubar: 75 Prozent von ihnen geben weniger als 200.000 Euro im Jahr aus und ein Viertel davon sogar nur rund 5000 Euro.
Das klingt nach lächerlich wenig. Tatsächlich stammen diese und andere Zahlen der Untersuchung aus dem Transparenzregister der EU, an das Unternehmen und Verbände, einmal im Jahr ihre Aufwendungen melden müssen.
Solche kleinen Summen könnten etwa das Reise- und Spesenbudget eines nationalen Lobbyisten sein, der ab und zu nach Brüssel fliegt oder der jährliche Mitgliedsbeitrag für einen europäischen Verband oder ein Teil des Gehalts eines Lobbyisten am Hauptsitz des Unternehmens, der unter anderem auch für EU-Themen zuständig ist. Zudem haben die Autoren der Studie bei der Auswertung immer dann 5000 Euro angenommen, wenn als Ausgaben im Register „weniger als 10.000 Euro“ angegeben war.
Gegenüber dem Geld, dass in Washington in die Beeinflussung der Entscheidungsträger fließt, verblassen die Brüsseler Zahlen ohnehin. Allein die US-Handelskammer gibt dort dieses Jahr 29,6 Millionen Dollar aus oder die US-Wohnungswirtschaft 18,13 Millionen Dollar. Auch die Tech-Unternehmen sind jenseits des Atlantiks spendabler: Amazon und Facebook beispielsweise gaben in Washington zuletzt jeweils rund zehn Millionen Dollar für Lobbying aus.